Nach dem Sturz des Assad-Regimes feiern Millionen Menschen die Befreiung. Vor dem Hintergrund des Krieges in Syrien und der Asyldebatte in Deutschland beleuchtet dieser Artikel die emotionale Dimension der Ereignisse, die Grundannahmen humanitärer Aufnahmepolitik und fragt, wo die Solidarität mit den Grundforderungen der Revolution – Freiheit, Gerechtigkeit, Würde – ansetzen kann.

Demonstration in Damaskus für ein säkulares, demokratisches Syrien am 18. Dezember 2024. Foto: Sari Mustafa.
Solidarität mit der syrischen Revolution war bereits zu Beginn des Krieges 2011 ein schwieriges Thema in der deutschen bzw. europäischen Politik: westliche Politiker wollten sich nach dem Fiasko im Irak nicht in einem neuen Krieg mit ungewissem Ausgang engagieren und gleichzeitig schien es international nicht möglich, sich auf einen Grundkonsens zum Recht auf Freiheit und Menschenwürde zu einigen und davon ausgehend die Hoffnung auf Revolution zu teilen und solidarisch aufzunehmen.
Syrische Aktivisten wurden bald als Stimmen der Zivilgesellschaft herumgereicht und interviewt, doch angesichts der Gewalteskalation und der stetigen Ausweitung des Krieges standen die Skandalisierung der Verbrechen und die humanitäre Versorgung schnell im Vordergrund des Diskurses. Internationale bzw. westliche Unterstützung für lokale Hilfsgruppen erforderte dabei stets ein Bekenntnis zu den humanitären Prinzipien der Neutralität und Unparteilichkeit. So nachvollziehbar dies ist, trug die humanitäre Perspektive auch dazu bei, den politischen Diskurs um Interessenvertretung und Gerechtigkeit weiter zu marginalisieren.
Die Flüchtlingszahlen im Nahen Osten stiegen rasant, die Versorgungslage wurde immer prekärer und die katastrophalen Nachrichten aus Syrien nahmen kein Ende. 2014 besetzte Da‘esh mit einer Blitzoffensive weite Teile Ostsyriens und propagierte mit martialisch inszenierten Videos medienwirksam seine Schreckensherrschaft. Als im Sommer desselben Jahres hunderttausende Menschen aus Syrien bzw. der Region nach Europa zogen, waren Syrer schnell die Flüchtlinge par excellence: Die Schrecken der islamistischen Terrormilizen und die humanitäre Unterversorgung in der Region erleichterten die allgemeine Anerkennung ihrer Schutzbedürftigkeit.
Im humanitären Bereich geht es darum, Leben zu retten. Die Willkommenskultur in Deutschland schien ganz in diesem Sinne zivilgesellschaftliches Engagement anzuregen. Doch inwiefern erfuhren die Geflüchteten Anerkennung und Differenzierung hinsichtlich ihrer Geschichten, Kultur und politischen Haltung? Spielte es noch eine Rolle, was für Geschichten die Leute mitbrachten und wer sich wie für die Zukunft Syriens eingesetzt hatte? Obwohl das Assad-Regime, auch im Vergleich zu Da‘esh, mehr Menschenleben auf dem Gewissen hatte, diskutierten europäische Medien, ob Assad nicht das geringere Übel sei. Ein positiver Aspekt waren sicherlich die Koblenz-Prozesse, in denen nach dem Weltrechtsprinzip ein Folterer verurteilt wurde.
Ein neues Leben im Exil aufbauen; eine neue Sprache lernen; Arbeit finden und ein Sozialleben pflegen, das selbst wenn es nicht mit dem in Syrien mithalten kann, doch etwas Halt gibt; Kontakte mit Einheimischen aufbauen; versuchen Kontakte mit der versprengten Familie und Freunden halten – während es doch ungemein schwierig ist gleichzeitig nach vorne und nach hinten zu schauen. Manche waren bestimmt auch von einer sogenannten Überlebensschuld geplagt, und mussten doch aktiv die Chance auf ein neues Leben in einem Aufnahmeland ergreifen. Die Traumatisierungen, die Verzweiflung und Trauer, fanden dabei oft wenig Raum. Und überhaupt, wie kann man die Geschichten von den immensen Verlusten überhaupt fassen? Vertreibung, Gewalt, Sorge um Angehörige – weit über 100 000 Vermisste, in den Folterkammern des Regimes verschwunden.
Während Syrien als hoffnungsloser Fall von der medialen Bildfläche zu verschwinden schien, blieben die Geschichten von der Revolution – die Hoffnungen, Träume, aber auch die Schmerzen der Unterdrückung, wie mit einer Eisenhand ums Herz unter Verschluss. Die Emotionen, die Freude und die Trauer, die sich nun mit der Befreiung Bahn brechen, sind überwältigend.
Der Slogan des Assad-Regimes und seiner Anhänger war „al-Assad aw nhruq al balad“ – „Assad oder wir verbrennen das Land“. Das Assad-Regime hat politischen Führern auf der ganzen Welt vorgemacht, wie weit man mit skrupelloser Gewalt seine Macht durchsetzen kann; insbesondere wenn einflussreiche Staaten eine Strafverfolgung entlang völkerrechtlicher Maßstäbe verhindern. 2023 wurde Assad wieder in der arabischen Liga begrüßt, und auch die Türkei versuchte Beziehungen mit Damaskus zu normalisieren. Am 8. Dezember 2024 ist das Assad-Regime nun endlich gefallen – und hat tatsächlich ein verbranntes Land hinterlassen.
Viele vermeintliche Anhänger leisteten nur aus Angst Gefolgschaft; zu offensichtlich war die Unterdrückung der Bevölkerung. Dass der omnipräsente Präsident – überall hingen seine Porträts, zahlreich waren die Denunzianten und Spitzel – nun endlich weg ist, ist eine riesengroße Erleichterung. Die Gefängnisse waren ein himmelschreiendes Unrecht, das viele Familien über Jahre in qualvoller Sorgen um ihre Angehörigen gefangen hielt. Jetzt, wo die Gefängnisse geöffnet wurden, können viele Menschen erst anfangen um ihre Toten zu trauern oder Angehörige, die schwerste Misshandlungen und Traumatisierungen erlitten haben, wieder in ihre Familien einzugliedern.
Im Kontakt mit Geflüchteten aus dem Irak oder aus Syrien durfte ich immer wieder erleben, wie die Rede von sich bekämpfenden religiösen Gruppen eher als ein unbeliebtes und von außen herangetragenes Thema betrachtet wurde. Die Demonstranten in Syrien skandierten entsprechend auch „wahid, wahid, wahid, assha3ab assury wahid“, „eins, eins, eins, das syrische Volk ist eins“. Assad hatte allerdings schon früh und gezielt eine Ethnisierung des Konflikts provoziert, indem er die alawitische Minderheit durch Bedrohungsszenarien an sich zu binden versuchte. Zudem scheinen auch etliche der geopolitischen Analysen zur Region entlang der divide-et-impera-Logik zu funktionieren – und dabei Potenziale und Narrative der Zivilgesellschaft zu übergehen.
Tage der Revolution und Befreiung eröffnen Möglichkeiten in unseren Herzen, befreien unsere Gedanken, beflügeln unsere Träume. Das sind kraftvolle Momente mit großem Potential. Dabei habe ich von niemandem aus Syrien mitbekommen, naiv in die Zukunft zu blicken. Den gesellschaftlichen Zusammenhalt und Wiederaufbau zu gewährleisten sind Mammut-Aufgaben, die aber auch eine heilsame Wirkung haben können: Kräfte bündeln und mit der Anerkennung der leidvollen Vergangenheit gemeinsam etwas Neues aufbauen. Und Millionen Menschen können erstmals wieder die Erinnerung aufleben lassen, dass sie ein Land und eine Heimat haben.
Unmittelbar nach dem Sturz des Regimes, haben Israel, die USA und die Türkei militärisch in Syrien eingegriffen. Während Netanyahu das Gesicht des Nahen Osten verändern will und Baerbock vor Islamisten warnt, lassen mehrere europäische Aufnahmeländer den syrischen Flüchtlingen kaum einen Tag der Freude, sondern spekulieren unmittelbar über deren mögliche Rückkehr und setzen Asylverfahren aus. Dies wirft auch über 13 Jahre nach Beginn der Revolution die Frage auf, wie es um die Empathie und der Solidarität mit den Rufen nach Freiheit und Würde bestellt ist.
Den Geschichten und Leidenswegen der Syrer mit einer einfühlsameren und respektvolleren Debatte mehr Anerkennung zu schenken, ist keine rechtliche Verpflichtung, aber ein entsprechendes Mitgefühl wäre durchaus angebracht und wohl auch im Sinne der Willkommenskultur. Wäre es nicht interessant mehr davon zu hören, mit welchen Erfahrungen und Visionen die Geflüchteten nun die Zukunft Syriens betrachten?
Schließlich führt das dann aber auch zu der Frage nach Solidarität. Das würde nicht bedeuten, der eine kann Hilfe geben, der andere muss sie nehmen, sondern ein geteiltes Gesellschaftsverständnis und die Verständigung auf einen gemeinsamen Zielhorizont. Ist die Forderung nach Freiheit, Gerechtigkeit und Würde zu viel verlangt? Können und wollen wir gemeinsam die Grundpfeiler der UNO-Charta für ein selbstbestimmtes Leben und universelle Menschenrechte verteidigen? Oder wo ist sie, die internationale Solidarität?